„Mehr Fortschritt wagen“ – Auch im Arbeitsrecht?

Die neue Bundesregierung hat am Mittwoch, den 24. November 2021 eine Einigung über den Koalitionsvertrag erzielt. Das veröffentlichte Regelwerk steht unter dem Motto: „Mehr Fortschritt wagen“. Ob diese Devise auch für die arbeitsrechtlichen Vorhaben der sog. Ampelkoalition in der kommenden Legislaturperiode gilt, haben wir im Folgenden für Sie ausgewertet.

Erhöhung des Mindestlohns

Ausweislich des veröffentlichten Koalitionsvertrags soll der gesetzliche Mindestlohn durch eine einmalige Anpassung auf EUR 12,00 pro Stunde erhöht werden. Nach dieser Erhöhung soll die unabhängige Mindestlohnkommission über weitere Erhöhungsschritte befinden. Darüber hinaus unterstützt die Koalition den Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über angemessene armutsfeste Mindestlöhne zur Stärkung des Tarifsystems und möchte sich in den Verhandlungen für verbindliche Mindeststandards einsetzen.

Zurzeit beträgt der gesetzliche Mindestlohn EUR 9,60 brutto pro Stunde und soll nach bisheriger Gesetzeslage in weiteren Schritten zum 1. Januar 2022 auf EUR 9,82 brutto pro Stunde und zum 1. Juli 2022 auf EUR 10,45 brutto pro Stunde steigen. Diese Schritte beruhen auf einer entsprechenden Verordnung des Bundeskabinetts vom Oktober 2020. Das Mindestlohngesetz in seiner aktuellen Fassung sieht strikte Vorgaben zur Erhöhung des Mindestlohnes vor, die eine tragende Verantwortung der Mindestlohnkommission zuweisen und Anpassungsmöglichkeiten nur in einem Zwei-Jahre-Rhythmus vorsehen. Die nun beabsichtigte Anhebung des Mindestlohns direkt auf EUR 12,00 pro Stunde ist bei einer sozialdemokratisch geführten Regierung nicht überraschend, aber dennoch ein großer Schritt. Allerdings schweigt der Koalitionsvertrag dazu, wann genau die einmalige Anpassung erfolgen soll.

Insgesamt wird die einmalige Anhebung eine erhebliche Erhöhung darstellen, die entsprechende Lohnsteigerungen im Niedriglohnsektor zur Folge haben wird. Daneben bleibt abzuwarten, wie und mit welchem Erfolg sich die Koalition auf europäischer Ebene für verbindliche Mindestlohnstandards einsetzen wird. Mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland wären europäische Mindeststandards sicherlich zu begrüßen.

Anspruch auf mobile Arbeit und Homeoffice?

Nach dem Willen der Ampelkoalition sollen "Arbeitnehmer in geeigneten Tätigkeiten (…) einen Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice erhalten. Arbeitgeber sollen dem Wunsch nur dann widersprechen können, wenn betriebliche Belange entgegenstehen" (S. 69 des Koalitionsvertrages).

Diese Formulierung wirft Fragen auf. Zum einen bleibt unklar, ob sich der angesprochene "Wunsch" des Arbeitnehmers auf die bloße Erörterung der mobilen Arbeit und des Homeoffice beziehen soll oder – was wahrscheinlicher ist – auf den Wunsch, mobil oder im Homeoffice zu arbeiten. Im letzteren Fall müsste diesem Wunsch widersprechen und dürfte ihn nicht aus sachfremden oder willkürlichen Motiven ablehnen. Dies liefe auf einen Anspruch auf Homeoffice bzw. mobiles Arbeiten hinaus. Klarheit wird – hoffentlich – die gesetzliche Regelung bringen, wenn und soweit dieser Aspekt des Koalitionsvertrages umgesetzt wird.

Nach dem Koalitionsvertrag ist auch eine schärfere Abgrenzung der einzelnen Begrifflichkeiten der mobilen Arbeit beabsichtigt. So soll als eine Möglichkeit der mobilen Arbeit der bisher nicht definierte Begriff des Homeoffice von dem in § 2 Abs. 7 Arbeitsstättenverordnung definierten Begriff der Telearbeit rechtlich abgegrenzt werden. Diese Abgrenzung wäre zu begrüßen.

Arbeitszeit

Weitreichende Neuerungen im Bereich Arbeitszeitrecht sind nicht zu erwarten, wenn man dem Koalitionsvertrag Glauben schenkt. Denn nach den Plänen der neuen Regierung soll am Grundsatz des Acht-Stunden-Tages im Arbeitszeitgesetz festgehalten werden. Zugleich soll im kommenden Jahr eine befristete Regelung erlassen werden, wonach Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ihre Arbeitszeit flexibler gestalten können. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt offen. Klar ist jedoch, dass solche eine flexible Gestaltung zunächst nur im Rahmen von Tarifverträgen ermöglicht werden soll. Gleichzeitig sollen sog. Experimentierräume geschaffen werden, die ein Abweichen von der derzeit geltenden Tageshöchstarbeitszeit in begrenztem Umfang ermöglichen sollen. Doch auch solche Regelungen sollen nur in Tarifverträgen oder in Betriebsvereinbarungen aufgrund von Tarifverträgen zulässig sein.

Zum Thema Zeiterfassung liefert der Koalitionsvertrag zunächst keine neuen Erkenntnisse. Konkrete Vorschläge, wie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof zur vollständigen Dokumentation der täglichen Arbeitszeit umgesetzt werden soll, fehlen im Vertragstext. Zumindest scheint sich die neue Regierung bewusst zu sein, dass gesetzgeberischer Handlungsbedarf mit Blick auf das EuGH-Urteil aus dem Jahr 2019 (!) besteht. Allerdings soll zunächst in Abstimmung mit den Sozialpartnern geprüft werden, welche Anpassungen genau notwendig sind. Hervorzuheben ist, dass sich die Ampelkoalition auch zur Vertrauensarbeitszeit bekennt.

Von einer grundlegenden Reform des Arbeitszeitrechts kann man ausweislich dieser Vorhaben und Programmsätze nicht sprechen. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchen Bereichen es in der kommenden Legislaturperiode überhaupt zu der angestrebten Flexibilisierung der Arbeitszeit kommt. Zu erwarten dürfte zumindest eine Änderung des § 16 Abs. 2 ArbZG sein, der bislang nur eine Verpflichtung zur Dokumentation von Arbeitszeiten vorsieht, die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehen.

Elternzeit und Mutterschutz

Familien sollen in Zukunft dabei unterstützt werden, Erwerbs- und Sorgearbeit besser zu vereinbaren. Dazu soll eine zweiwöchige vergütete Freistellung für den Partner oder die Partnerin nach der Geburt eines Kindes eingeführt werden. Mutterschutz und Beschäftigungsverbote sollen künftig auch bei Fehl- bzw. Totgeburten nach der 20. Schwangerschaftswoche gelten. Auch soll der elternzeitbedingte Kündigungsschutz um drei Monate nach Rückkehr in den Beruf verlängert werden, um den Wiedereinstieg abzusichern.

Für Mütter sind im Mutterschutzgesetz (MuSchG) aktuell Beschäftigungsverbote von sechs Wochen vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin und acht Wochen nach der Geburt geregelt, wobei nur letzteres zwingend einzuhalten ist. Bei einer Fehlgeburt liegt allerdings bislang nur ein Fall der Arbeitsunfähigkeit mit Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG vor, und dies auch nur, wenn die Frau nach einer Fehlgeburt ihre Arbeitsleistung tatsächlich zunächst nicht aufnehmen kann.

Um dem heute veränderten gesellschaftlichen Rollenbild gerecht zu werden und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern, sind die beschlossenen Vorhaben ein wichtiger und richtiger Schritt. Zudem rückt die psychische Gesundheit, der im Koalitionsvertrag auch an anderer Stelle mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, in den Vordergrund.

Betriebliche Mitbestimmung

Ein weiterer wesentlicher Punkt der arbeitsrechtlichen Vorhaben im Koalitionsvertrag ist die Weiterentwicklung der betrieblichen Mitbestimmung. Künftig soll es den Betriebsräten zur Disposition gestellt werden, ob sie analog oder digital arbeiten. Zudem soll das inzwischen vielfach geforderte Online-Verfahren zur Betriebsratswahl in einem Pilotprojekt erprobt werden. Vor dem Hintergrund der sozialökologischen Transformation und der Digitalisierung erfolgt eine Evaluierung des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes. Schließlich soll die missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts verhindert werden.

Dass der Betriebsrat künftig selbst darüber entscheiden soll, ob er analog oder digital arbeitet, ist jedenfalls vor dem Hintergrund des qualitativen Defizits einer virtuellen Sitzung zu einem persönlichen Austausch kritisch zu bewerten. Der bislang geltende Vorrang der Präsenzsitzung wird damit künftig wohl aufgegeben. Mit dem Anstoß zu digitalen Betriebsratswahlen gehen die Koalitionäre einen wichtigen Schritt in die moderne Betriebsverfassung. Abzuwarten bleibt jedoch die konkrete Ausgestaltung der Online-Wahl, die den Gesetzgeber bei der Berücksichtigung der Wahlrechtsgrundsätze vor besondere Schwierigkeiten stellen könnte. Hierzu soll es zunächst ein nicht näher umrissenes "Pilotprojekt" geben. Schließlich soll auch das erst vor Kurzem in Kraft getretene Betriebsrätemodernisierungsgesetz nochmals evaluiert werden. Abzuwarten bleibt, inwieweit auch dies zu Nachjustierungen im Betriebsverfassungsgesetz führen wird.

Unternehmerische Mitbestimmung

Mit Blick auf die unternehmerische Mitbestimmung enthält der Koalitionsvertrag zwei erhebliche Änderungsvorhaben:

Zum einen sollen künftig für den Schwellenwert von 500 Mitarbeitern, ab dem ein nach dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden ist, auch die Arbeitnehmer konzernabhängiger Gesellschaften mitzählen. Bisher war dies bei Konzernsachverhalten nur dann der Fall, wenn zusätzlich noch ein Beherrschungsvertrag zwischen dem herrschenden und den beherrschten Konzernunternehmen bestand. Da dies praktisch die Ausnahme war, würde die Gesetzesänderung zu einer erheblichen Ausweitung der Mitbestimmung nach dem DrittelbG führen. Es ist nicht davon auszugehen, dass es insoweit einen Bestandsschutz geben wird.

Die zweite Änderung betrifft die Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Diese Rechtsform unterliegt bislang weder dem Anwendungsbereich des DrittelbG noch dem des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG). Demnach unterfällt eine im Gründungszeitpunkt mitbestimmungsfreie SE derzeit auch dann nicht der Mitbestimmung nach dem DrittelbG bzw. dem MitbestG, wenn sie in der Folge die Schwellenwerte von 500 bzw. 2.000 Arbeitnehmern in Deutschland durch organisches Wachstum überschreitet (so genannter Einfrierungseffekt). Dies will die künftige Bundesregierung nun ändern. Es bleibt abzuwarten, wie dies erfolgen soll. Wahrscheinlich wird im SE-Beteiligungsgesetz für den Fall des Überschreitens der Schwellenwerte eine Nach- oder Neuverhandlungspflicht der Beteiligungsvereinbarung verankert. Im Falle des Scheiterns dieser Verhandlungen, wird es dann vermutlich eine Auffangregelung geben, nach der ein bestimmtes Mitbestimmungsniveau in der SE zur Anwendung kommt. Ob dies analog dem des DrittelbG bzw. des MitbestG oder niedriger ausfällt, bleibt abzuwarten. Gleiches gilt für die Frage, ob diese Neuregelung nur für neu gegründete SEs oder dann auch für bereits bestehende SEs gelten wird (Bestandsschutz).

Befristung

Neues plant die Ampelkoalition auch mit Blick auf das Befristungsrecht. Zwar konnten sich die SPD und Bündnis 90 / DIE GRÜNEN mit der in ihren Wahlprogrammen noch geforderten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung nicht durchsetzen. Allerdings will der Bund als Arbeitgeber mit guten Beispiel vorangehen und die sachgrundlose Befristung bei den eigenen Beschäftigten Schritt für Schritt reduzieren. Im Öffentlichen Dienst soll die Möglichkeit der Haushaltsbefristung (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 TzBfG) abgeschafft werden. Doch auch die Privatwirtschaft wird sich auf Änderungen im Befristungsrecht einstellen müssen: Hier sollen mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge bei demselben Arbeitgeber auf sechs Jahre begrenzt werden.

Neueinführung und Ausweitung von Instrumenten für Unternehmen in der Restrukturierung

Neu einführen will die Koalition ein sog. "Qualifizierungsgeld", das, angelehnt an das Kurzarbeitergeld, Unternehmen in Strukturwandelprozessen ermöglichen soll, Beschäftigte qualifizieren und so Arbeitsplätze einerseits und fachliche Expertise im Betrieb andererseits zu sichern. Diese Möglichkeit soll aber scheinbar nur in Betrieben eröffnet werden, in denen ein Betriebsrat besteht, da die Gewährung von Qualifizierungsgeld vom Abschluss einer Betriebsvereinbarung abhängen soll. Zugleich sollen das Transfer-Kurzarbeitergeld und die den Transfergesellschaften zur Verfügung stehenden Instrumentarien weiterentwickelt werden. Was dies konkret bedeutet, sagt der Koalitionsvertrag allerdings noch nicht.

Tarifautonomie

Klar bekennt sich die neue Regierung auch zur Stärkung der Tarifautonomie, der Tarifpartner und der Tarifbindung. Mit welchen Mitteln dies im Einzelnen geschehen soll, ist allerdings weniger klar umrissen. Noch relativ eindeutig ist die Aussage zur öffentlichen Auftragsvergabe des Bundes, die künftig an die Einhaltung eines repräsentativen Branchentarifvertrages gebunden werden soll. Gleiches gilt für den Plan, § 613a BGB "unangetastet" zu lassen. Welche weiteren Schirrte zur Stärkung der Tarifbindung sich im geplanten Dialog mit den Sozialpartnern möglicherweise ergeben werden und wie die ins Auge gefassten "weiteren Experimentierräume aussehen könnten, bleibt dagegen abzuwarten.

Neben diesen Punkten findet sich in der arbeitsrechtlichen Agenda der neuen Bundesregierung ein bunter Strauß an weiteren konkreten Vorhaben. So sollen Regelungen zum Beschäftigtendatenschutz geschaffen werden. Entsprechend der Erhöhung des Mindestlohns soll die Midi-Job-Grenze auf EUR 1.600 und die Mini-Job-Grenze auf EUR 520 pro Monat erhöht werden. Gewerkschaften sollen ein digitales Zugangsrecht erhalten, damit sie ihre Rechte zeitgemäß ausüben können.

Überdies enthält der Koalitionsvertrag eine Vielzahl von Absichtserklärungen – ohne dass sich hieraus konkrete Pläne und Umsetzungsmaßnahmen ableiten lassen. So möchte sich die Ampelkoalition für gute und faire Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie einsetzen und dabei die Initiative der EU-Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf Plattformen "konstruktiv begleiten". Es soll "unbürokratisch" Rechtssicherheit bei der Beschäftigung von Selbstständigen geschaffen und das betriebliche Eingliederungsmanagement gestärkt werden. Ob und wie diese doch eher abstrakten Ziele letztlich umgesetzt werden, bleibt zu beobachten.

 

 

Verfasst von: Kerstin Neighbour, Tim Joppich, Justus Frank, Rebecca Reinhardt und Charlotte Baecker

 

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