EuGH schließt die Anwendbarkeit der HOAI 2013 für "Altfälle" nicht aus

Zusammenfassung des Urteils des EuGH vom 18. Januar 2022 in der Rechtssache C-261/20 zur Anwendbarkeit der HOAI für Verträge, die vor dem 31.12.2020 (sog. "Altfälle") abgeschlossen wurden, gegen die Mindestsätze verstoßen und Gegenstand eines nationalen Gerichtsverfahrens sind sowie Ausblick im Hinblick auf die noch ausstehende BGH – Entscheidung zur Zulässigkeit von sog. Aufstockungsklagen und Handlungsempfehlungen für Bauvorhaben und Projektentwicklungen, die vor dem 31.12.2020 begonnen worden sind und nun fertig gestellt werden.

Der EuGH hat mit seinem Urteil vom 18. Januar 2022 in der Rechtssache C-261/20 klargestellt, dass allein der Verstoß gegen das EU – Recht – hier Art. 15 Abs, 1 und 2 (g) und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 – nicht dazu führt, dass nationale Gerichte die vor dem 1.1.2021 geltende Fassung der HOAI, die von den Mindestsätzen abweichende Honorarvereinbarungen für unwirksam hält, für sogenannte Altverträge nicht mehr anwenden dürfen.

Der EuGH führte hierzu aus, dass die Gerichte nicht aufgrund des Unionsrechts dazu verpflichtet sind, die nationale Regelung unangewendet zu lassen, wenn die Bestimmung des Unionrechts keine unmittelbare Wirkung hat. Die Gerichte haben jedoch die Möglichkeit, die Anwendung der unionsrechtswidrigen Norm aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen.

Die durch die Unvereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht geschädigte Partei hat laut EuGH, sollte das Gericht im konkreten Fall die unionsrechtswidrige Norm anwenden, gegebenenfalls die Möglichkeit, Schadensersatz vom deutschen Staat zu verlangen.

Mit dieser Entscheidung beantwortete der EuGH die Frage des BGH, ob ein nationales Gericht bei der Beurteilung der Begründetheit der Klage eines Architekten gegen einen privaten Auftraggeber auf zusätzliches Honorar (sog. "Aufstockungsklage"), eine nationale unionsrechtswidrige Bestimmung (im gegenständlichen Fall § 7 HOAI 2013), auf die die Klage gestützt wird, unangewendet lassen muss.

Zum Hintergrund

Der EuGH hatte mit seinem Urteil vom 04.07.2019 (C-377/17) festgestellt, dass die Mindest- und Höchstsätze der HOAI gegen die Dienstleistungsrichtline verstoßen und somit unionsrechtswidrig sind. Dies führte dazu, dass die HOAI novelliert wurde und seit Inkrafttreten der HOAI 2021 (1. Januar 2021) die Parteien nunmehr in ihrer Honorarbildung frei sind.

Es blieb jedoch die Frage offen, wie mit Verträgen umzugehen ist, die vor dem Inkrafttreten der neuen HOAI 2021 abgeschlossen wurden (sog. "Altverträge") und gegen die in § 7 HOAI 2013 normierten Mindestsätze verstoßen. Bisher war normiert, dass gegen die Mindestsätze verstoßende Honorarabsprachen unwirksam sind und die hiervon betroffenen Architekten und Planer in Fällen der Mindestsatzunterschreitung die Mindestsätze nach HOAI auch bei entgegenstehender vertraglicher Vereinbarung von Ihren Auftraggebern verlangen können (sog. "Aufstockungsklage").  

In dem zum Vorabentscheidungsverfahren führenden Fall, schlossen eine Immobiliengesellschaft und ein Ingenieur im Jahr 2016 einen Vertrag über Planungsleistungen gegen Zahlung eines Pauschalhonorars. Da dieses Honorar jedoch nicht den in § 7 HOAI 2013 normierten Mindestsätzen entsprach, erhob der Ingenieur für die von ihm bereits erbrachten Leistungen Klage und forderte die Zahlung des offenen Restbetrages ein. Das erst- und zweitinstanzliche Gericht gab der Klage des Ingenieurs statt. Die beklagte Immobiliengesellschaft legte dahingehend Revision ein und stützte seine Begründung unter anderem auf das Urteil des EuGH vom 04.07.2019, mit diesem die Unvereinbarkeit der HOAI mit der Bestimmung der Dienstleistungsrichtlinie festgestellt wurde.

Der BGH stellte in seinem Vorabentscheidungsersuchen daraufhin die Frage, ob ein nationales Gericht bei der Beurteilung der Begründetheit der Klage eines Einzelnen gegen einen anderen Einzelnen, die einer Richtlinie (hier der Dienstleistungsrichtlinie) widersprechende Bestimmung des nationalen Rechts, auf welche die Klage gestützt wird, unangewendet lassen muss. Eine mit der Dienstleistungsrichtlinie konforme Auslegung der HOAI sei im vorliegenden Fall auch nicht möglich.

Der EuGH begründete seine oben zitierte Entscheidung folgendermaßen:

Keinen Zweifel ließ der EuGH daran, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts alle mitgliedstaatlichen Stellen, dazu verpflichte, den verschiedenen Vorschriften der Europäischen Union volle Wirksamkeit zu verschaffen und dieser Grundsatz verlangt, dass die nationalen Gerichte das Unionsrecht anzuwenden haben, d.h. dann, wenn es eine nationale Regelung nicht unionsrechtskonform auslegen kann, für die volle Wirksamkeit der Bestimmungen des Unionsrechts Sorge zu tragen hat, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.

Allerdings ist ein nationales Gericht nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine Bestimmung seines nationalen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewendet zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat sondern der nationalgesetzgeberischen Umsetzung bedarf. In diesen Fällen hat das nationale Gericht im Ergebnis ein Wahlrecht, ob es die Anwendung jener Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließt oder die Partei, die sich auf das Unionsrecht beruft, auf einen Schadensersatz gegen den Mitgliedsstaat, der die EU-Norm nicht oder nicht rechtzeitig umgesetzt hat, verweist.

Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof darauf hin, dass Art. 15 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie nach seiner eigenen Rechtsprechung eine unmittelbare Wirkung entfalten kann, da diese Bestimmung hinreichend genau, klar und unbedingt ist. Allerdings ist zu beachten, dass EU-Normen unmittelbar nicht zwischen Privaten wirken, sondern insoweit der Umsetzung in nationales Recht bedürfen. Eine unmittelbare Anwendung von nicht in nationales Recht umgesetztes EU-Recht ist nicht gegeben. Daher führt der EuGH aus, dass die Anwendung von Art. 15 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie im Ausgangsrechtsstreit dem klagenden Ingenieurbüro sein Recht nehmen würde, ein Honorar in der Höhe einzufordern, die dem in den fraglichen nationalen Vorschriften vorgesehenen Mindestsatz entspricht. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs schließt jedoch aus, dass diese Bestimmung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits zwischen Privaten eine solche Wirkung zuerkannt wird. Sofern sich jedoch aus anderen nationalen Rechtsnormen die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit des hier in Rede stehenden § 7 HOAI ergeben kann, wie beispielsweise aus allgemein Rechtsnormen, steht es dem nationalen Gericht frei, auf eine Anwendung der unionsrechtswidrigen Norm zu verzichten.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass nach Art. 260 Abs. 1 AEUV, jener Mitgliedstaat, gegen den eine Vertragsverletzung festgestellt ist, verpflichtet ist, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um eine unionsrechtskonforme Situation herzustellen. Dies kann eine Änderung der entsprechenden Gesetzeslage – wie hier die Änderung der HOAI zum 1.1.2021 – sein oder auch eine gegen das Unionsrecht verstoßende nationale Bestimmung unangewendet zu lassen. Grundsätzlich zu beachten ist aber, dass Urteile, mit denen Verstöße gegen Unionsrecht festgestellt werden, vor allem die Mitgliedstaaten binden und nicht der Verleihung von Rechten an Einzelne dienen sollen. Konsequenterweise ist der EuGH daher zu dem Schluss gekommen, dass die Gerichte oder Behörden daher nicht allein aufgrund von Urteilen, die wegen Verletzung der Umsetzung von EU-Recht gegen Mitgliedsstaaten ergehen, verpflichtet sind, im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privaten eine nationale Regelung unangewendet zu lassen.

Der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht Geschädigte ist jedoch nicht rechtlos gestellt. Nach dieser Rechtsprechung des EuGH muss jeder Mitgliedstaat sicherstellen, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch die Nichtbeachtung des Unionsrechts entstanden ist.

(Quellen: Urteil des EUGH vom 18. Januar 2022 sowie die dazugehörige Pressemitteilung)

Zur Wirkung der Entscheidung

Der BGH muss sich nun entscheiden, von welcher der genannten Möglichkeiten er im gegenständlichen Revisionsverfahren Gebrauch macht. Er kann einerseits die HOIA die nach den vor dem 1.1.2021 geltenden Regelungen anwenden und dem klagenden Ingenieurbüro das erhöhte Honorar zusprechen und damit den Auftraggeber auf einen Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland verweisen oder unter Anwendung anderer Normen des Zivilrechts die Klage abweisen. Denkbar wäre eine Anwendung der allgemeinen Vorschriften nach Treu und Glauben (§§ 138, 242 BGB), denn nach dem der EuGH in seinem Urteil vom 04.07.2019 bereits festgestellt hatte, dass die zwingende Anwendbarkeit der Mindestsätze der HOAI  gegen EU-Recht verstößt, durfte sich wohl niemand mehr darauf verlassen, jedenfalls bei Aufträgen nach Juli 2019 die Mindestsätze als zwingendes Honorar durchsetzen zu können. Auch vor dem Urteil des EuGH über die Unwirksamkeit der Regelung zur zwingenden Anwendung der Mindestsätze war in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass die Berufung des Architekten auf die Unwirksamkeit einer den Mindestsatz unterschreitenden Honorarvereinbarung unwirksam sein kann (vgl. z.B OLG Stuttgart Urt. v. 21.10.2014 – 10 U 70/14, BeckRS 2014, 21040, beck-online, OLG Naumburg, Urt. v.10.10.2013 – 1 U 9/13, NJW 2014, 1673). Wie der BGH entscheiden wird, ist derzeit nicht absehbar. Die nun folgende Entscheidung des BGH wird insofern richtungsweisend für alle Bauvorhaben sein, deren Honorare auf Aufträgen basieren, welche vor dem 31.12.2020 erteilt wurden.

Die aktuelle Entscheidung des EuGH ist juristisch sicherlich richtig, stellt aber insbesondere Projektentwickler und Auftraggeber von Architektenleistungen vor neue Herausforderungen. Viele der Bauvorhaben, die in diesem und im nächsten Jahr fertiggestellt werden, haben Planungsleistungen als Grundlage, die in 2020 oder davor erbracht wurden, also auf der Grundlage von Architekten- und Planerverträgen auf der Basis der HOAI (2013). Je nach Entscheidung des BGH ist nicht auszuschließen, dass Architekten auch bei Pauschalpreisvereinbarungen und Mindestsatzunterschreitung unter Berufung auf § 7 HOAI (2013) wieder höhere Honorare geltend machen werden. Dies ist angesichts der ohnehin gestiegenen Baupreise misslich. In jedem Fall sollte aber, um jedenfalls bei abgeschlossenen und abgerechneten Bauvorhaben für beide Parteien Rechtssicherheit zu erhalten, die Schlussrechnungssumme im Rahmen eines Schlussrechnungsvergleiches noch einmal vereinbart werden.

 

 

Verfasst von Sabine Reimann und Kerstin Schoening.

 

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