„Bombshell ruling“, „herbe Niederlage für die EU-Kommission“, „clearly a blow“: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 3. September 2024 in Sachen Illumina/Grail (C-611/22 P und C-625/22 P) hat nicht nur in der juristischen Fachwelt hohe Wellen geschlagen. Denn der EuGH hat die fusionskontrollrechtlichen Ambitionen der EU-Kommission massiv eingeschränkt. Diese hatte eine Transaktion geprüft und untersagt, für die weder sie noch ein EU-Mitgliedstaat zuständig war. Frei nach dem Motto „Minus und Minus ergibt Plus“ stützte sie sich dabei auf eine neue Auslegung von Art. 22 der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO), wonach auch ein unzuständiger Mitgliedstaat erfolgreich einen Antrag auf „Verweisung“ der Fusionskontrolle nach Brüssel stellen konnte; tatsächlich ermunterte die Kommission sogar zu solchen Anträgen.
Die nachträgliche Verweisung setzt allerdings die erstmalige Zuweisung einer Prüfungskompetenz voraus. Das hat der EuGH den Wettbewerbshütern nun deutlich ins Stammbuch geschrieben. In diesem Beitrag beleuchten wir für Sie die Hintergründe und wesentlichen Argumente des Gerichts. Vor allem aber beschäftigen wir uns mit der Frage: Was sind die Folgen?
Die Vorgeschichte
Der Fall hat seinen Ursprung im September 2020, als die Kommission erstmals eine Neuinterpretation des Art. 22 FKVO ankündigte – ein Bruch mit der bisherigen Praxis, wonach nur Mitgliedstaaten mit eigener Prüfungskompetenz erfolgreiche Verweisungsanträge stellen konnten. Dieser Ansatz wurde durch einen (recht dünnen) Leitfaden aus dem März 2021 formalisiert. In der Folge konnten auch Transaktionen von Unternehmen ohne relevanten Umsatz in irgendeinem EU-Mitgliedstaat in die Maschinerie der Brüsseler Fusionskontrolle geraten.
Illumina, ein US-amerikanisches Krebsforschungsunternehmen, war das erste Opfer dieser neuen Linie. Im April 2021 leitete die Kommission eine Untersuchung seiner sieben Milliarden Dollar schweren Übernahme des auf Krebs-Früherkennung spezialisierten Unternehmens Grail ein. Diese Prüfung basierte auf Verweisungsanträgen von sechs Ländern (angeführt von Frankreich), die selbst nicht für die Prüfung zuständig waren. Im Juli 2022 bestätigte das Gericht der Europäischen Union (EuG) dieses Vorgehen und im September desselben Jahres untersagte die Kommission die Transaktion. Zudem verhängte sie später eine Rekord-Geldbuße von 432 Mio. Euro gegen Illumina, weil das Unternehmen die Übernahme trotz des laufenden Fusionskontrollverfahrens vollzogen hatte. Doch Illumina und Grail legten erneut Rechtsmittel ein und schon Anfang dieses Jahres zeichnete sich Widerstand ab: Im März zerpflückte der Generalanwalt Nicholas Emiliou die EuG-Entscheidung und empfahl dem EuGH in geharnischten Schlussanträgen, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Annahme der Verweisungsanträge durch die Kommission für nichtig zu erklären.
Genau dies ist nun geschehen.
Die Begründung des EuGH
Der EuGH stützt sein Ergebnis auf eine schulmäßige Auslegung der umstrittenen Vorschrift. Die Norm sei eingeführt worden, weil einige Mitgliedstaaten seinerzeit über gar keine nationale Regelung der präventiven Fusionskontrolle verfügten. Konkret ging es damals vor allem um die Niederlande, weshalb sich für Art. 22 FKVO auch die Bezeichnung „niederländische Klausel“ eingebürgert hat.
Die Vorschrift sei dagegen nicht als allgemeines Korrektiv eines vermeintlichen „Enforcement Gap“ gedacht gewesen. Auch aus der Gesetzessystematik ergebe sich kein anderes Ergebnis – im Gegenteil. Der Gesetzgeber habe nämlich bereits an anderer Stelle eine Möglichkeit zur kurzfristigen Anpassung der FKVO-Schwellenwerte eingeführt. Denn nach Art. 1 Abs. 4 und 5 FKVO kann, kurz gesagt, der Rat der EU die Schwellenwerte und Kriterien, die den Anwendungsbereich der FKVO bestimmen, „auf der Grundlage statistischer Informationen, die die Mitgliedstaaten regelmäßig übermitteln können“, ändern.
Nur: Diese Mühe hätte man sich auch machen müssen. Stattdessen habe die Kommission Art. 22 zu einem „Korrektiv“ umgedeutet, als das er nie gedacht war. Die in der FKVO festgelegten Schwellenwerte seien aber ein aus Unternehmenssicht elementarer Garant für Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit. Die am Zusammenschluss Beteiligten müssen, so der EuGH, ohne weiteres erkennen können, ob und von welcher Behörde und unter welchen Verfahrensvoraussetzungen ein geplanter Zusammenschluss einer Prüfung zu unterziehen ist. Der von der Kommission gewählte Ansatz verwässere das um diese Interessen herum aufgebaute System und maße sich damit einen Gestaltungsspielraum an, der dem Gesetzgeber vorbehalten sei. Dies beeinträchtige nicht nur die Rechtssicherheit, sondern verletze auch das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts, das die Zuständigkeiten der EU-Organe klar voneinander abgrenzt.
Die Folgen…
… für Illumina
Für Illumina bedeutet das Urteil eine späte Genugtuung. Nicht nur wurde die Auslegung der FKVO bestätigt, auf die das Unternehmen stets bestanden hatte, sondern auch die Grundlage für das Bußgeld ist entfallen. Unmittelbar nach dem Urteil kündigte die Kommission an, alle ihre Entscheidungen im Zusammenhang mit der Transaktion aufzuheben. 432 Mio. Euro, möglicherweise zuzüglich Zinsen, müssen nun an Illumina zurückgezahlt werden – und auch eine Amtshaftungsklage gegen die Kommission ist nicht undenkbar.
... und der Rest der Welt
Vor allem aber hat das Urteil auch über den Einzelfall hinaus weitreichende Konsequenzen.
Kurzfristig stärkt es die Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, was sich positiv auf die Planung von M&A-Prozessen auswirken dürfte – insbesondere bei der Übernahme von Nischenplayern und Start-ups. Denn aus Sicht der Wettbewerbsbehörden handelt es sich bei der Übernahme solcher Unternehmen häufig um sogenannte „Killer Acquisitions“, bei denen große Unternehmen potenzielle Konkurrenten aufkaufen, bevor diese zu einer Bedrohung werden. Die Prüfung solcher Transaktionen ist und bleibt ein zentrales Anliegen der Kartellbehörden und sollte durch die erweiterte Anwendung von Art. 22 FKVO eigentlich beflügelt werden. Das zeigt sich auch darin, dass Art. 14 Abs. 5 des Digital Markets Act einen expliziten Bezug hierzu herstellt: Transaktionen von großen Tech-Unternehmen (sog. Gatekeepern), die bei der Kommission zwar nicht vorab zur Freigabe angemeldet, aber doch wenigstens informatorisch angezeigt werden müssen, sollten über den Umweg der Verweisung ebenfalls in den Anwendungsbereich der FKVO gezogen werden können. Im Übrigen zeigt sich nun auch, wie weitreichend die Kommission von ihrer vermeintlichen Prüfungskompetenz Gebrauch gemacht hat.
Die scheidende EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager ließ sich daher unmittelbar nach dem Urteil wie folgt zitieren:
“There will continue to be a need to review mergers that have a competitive impact in Europe. […] A company with limited turnover may still play a significant competitive role on the market, as a start-up with significant potential, or as an important innovator. [… W]e will consider the next steps to ensure that the Commission is able to review those few cases where a deal would have an impact in Europe but does not otherwise meet the EU notification thresholds.”
Die Preisfrage ist nun, wo diese Überlegungen hinführen.
Eine Möglichkeit bestünde darin, den im Urteil skizzierten Weg zu gehen und die Schwellenwerte der FKVO anzupassen. Dies würde allerdings den Rückgriff auf eine bislang unerprobte Norm und einen weitgehenden politischen Konsens über die angemessenen „Schwellen und Kriterien“ der europäischen Fusionskontrolle erfordern; es wäre eine „qualifizierte Mehrheit“ im Rat erforderlich. Angesichts des gegenwärtigen Richtungsstreits über das Verhältnis von Wettbewerbs- und Industriepolitik ist dies alles andere als ein Selbstläufer. Das gilt erst recht, wenn ein solcher Vorstoß weitergehende Reformwünsche wecken sollte. Denn eine Generalrevision der FKVO würde sogar Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten erfordern – und stünde damit vor einer noch höheren Hürde als die Anwendung von Art. 1 Abs. 4 und 5 FKVO. Rufe danach wurden freilich schon laut, z.B. seitens der französischen EU-Parlamentarierin Stéphanie Yon-Courtin. Mit einer bloßen Absenkung der umsatzbezogenen Schwellen wäre es aber sicher nicht getan, denn dies würde zu einem zu starken Anstieg des Brüsseler Fallaufkommens führen. Die Kommission will zwar „dicke Fische fangen“ – aber bitte ohne Schleppnetz.
Außerhalb gesetzgeberischer Maßnahmen käme ein Rückgriff auf die sog. Towercast-Rechtsprechung (C-449/21) in Betracht. Danach können auch nicht fusionskontrollpflichtige Transaktionen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung begründen und auf der Grundlage von Art. 102 AEUV geprüft werden. Daraus folgt aber keine generelle Anmeldepflicht, sondern nur eine punktuelle Kontrolle im Einzelfall. Diese dürfte allerdings allzu oft auf eine bloße Ex-post-Prüfung nach Vollzug einer Transaktion hinauslaufen. Denn ohne vorherige Anmeldung ist die Kommission auf anderweitige Hinweise oder eigene Recherchen zu potenziell problematischen Transaktionen angewiesen. Außerdem könnte sie nur gegen bereits jetzt marktbeherrschende Unternehmen vorgehen. Ziel der Fusionskontrolle ist es aber, jede erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs – einschließlich der Entstehung marktbeherrschender Stellungen – zu verhindern. Kommissionsbeamte haben sich daher in den letzten Monaten vielfach gegen diese Lösung ausgesprochen, da sie im Vergleich zur nun gekippten „22er-Lösung“ sowohl ineffizient als auch unsicher sei.
Es bliebe dann noch die Nachjustierung auf nationaler Ebene. Auch hier lohnt sich ein Blick in die Pressemitteilung von Kommissarin Vestager:
“Going forward, in compliance with today's judgment, the Commission will continue to accept referrals made under Article 22 of the Merger Regulation by Member States that have jurisdiction over a concentration under their national rules where the applicable legal requirements are met. In the last few years, several Member States have introduced provisions allowing them to request the notification of transactions that do not meet national thresholds, in situations where they might have a significant competitive impact. The possibilities for referrals to the Commission under Article 22, in compliance with today's judgment, are thus already more extensive than they were at the time of the Illumina/GRAIL referral.”
Damit spielt die Kommission auf die Mitgliedstaaten Dänemark, Ungarn, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Slowenien und Schweden an, die allesamt ihren Wettbewerbsbehörden eine sogenannte „call in“-Ermächtigung eingeräumt haben. Diese können also auch solche Zusammenschlüsse aufgreifen, die die ansonsten geltenden nationalen Anmeldeschwellen nicht erreichen. Liest man das obige Zitat, so scheint die Kommission auf Nachahmer zu hoffen. Tatsächlich würde jede weitere nationale Kontrollmöglichkeit schon für sich genommen für eine engmaschigere Kontrolle sorgen – und hätte zudem den angenehmen Nebeneffekt, auch eine Prüfung in Brüssel zu ermöglichen, sofern es (auf Initiative der Kommission) zu einer Verweisung nach Art. 22 FKVO kommt. Da dann nämlich eine nationale Zuständigkeit gegeben wäre, stünde das Illumina-Urteil einer Verweisung nicht entgegen. Diese Möglichkeit fasst auch der EuGH in seiner jetzigen Entscheidung ins Auge.
Ganz zufrieden dürfte die Kommission aber auch damit nicht sein. Dies wird umso deutlicher bei Betrachtung der Dimensionen, die Art. 22 FKVO tatsächlich zu haben schien: Zwar hat die französische Kartellbehörde noch am Tag der Urteilsverkündung eine Anwendung der Towercast-Rechtsprechung sowie eine Anpassung der nationalen Aufgreifschwellen in Aussicht gestellt. Allerdings gibt es neben Frankreich mit Spanien, den Niederlanden und Österreich weitere „Wiederholungsverweiser“, die zwar Art. 22 FKVO historisch besonders häufig in Anspruch genommen haben, aber über keine „call in“-Kompetenz verfügen. Darüber hinaus sind auch die bestehenden schwellenwertunabhängigen Verweisungsbefugnisse regelmäßig an eigene Tatbestandsmerkmale geknüpft, insbesondere an das Erfordernis eines hinreichenden Inlandsbezugs („local nexus“). Und solange nicht jeder Mitgliedstaat eine „call in“-Möglichkeit einräumt, bleiben die Brüsseler Eingriffsbefugnisse begrenzt. Man hinge am Tropf der nationalen Behörden und Gesetzgeber. Belgien, Deutschland und Österreich haben bereits signalisiert, jedenfalls derzeit keine Notwendigkeit für eine Erweiterung ihrer Fusionskontrollvorschriften zu sehen.
Die Entscheidung für die Förderung einer (oder mehrerer) der genannten Maßnahmen wird aller Voraussicht nach ganz oben auf der Agenda der künftigen Leitung der Brüsseler Wettbewerbsbehörde stehen. Wie diese Entscheidung ausfallen wird, scheint derzeit völlig offen. Denn aus Sicht der Kommission ist keine der skizzierten Lösungen ideal.
Als Fazit bleibt daher: Das Illumina-Urteil ist ein kurzfristiger Sieg für die Rechtssicherheit und nimmt Momentum aus den jüngeren „gotta catch ‘em all“-Ambitionen der Brüsseler Behörde. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich: es ist nicht mehr als eine Wegscheide für künftige Entwicklungen. Denn das Kernanliegen der Kommission bleibt unverändert. Es wird also sicherlich wieder Bewegung in die Sache kommen – und die kartellrechtliche Komplexität vieler M&A-Transaktionen weiter erhöhen. Insofern ist das Illumina-Urteil zwar äußerst bedeutend, aber noch lange nicht das letzte Wort.
Authored by Martin Sura, Elena Wiese, and Florian von Schreitter.